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Polling. Der Ort und sein Geist

Polling. Der Ort und sein Geist

von Helmut Mauró

Auf den berühmten Pollinger Bildtafeln aus dem 15. Jahrhundert sieht man den Bayernherzog Tassilo III. auf der Jagd mit seinem Gefolge durch die umliegenden Wälder streifen. Dort findet er jenes hölzerne Kruzifix, das die Gründung des Klosters Polling zur Folge hat. Der junge Tassilo ist nicht nur ein geschickter Jäger, er hat auch ein Sensorium für Überirdisches, Spirituelles. Beides zusammen erst qualifiziert ihn als Herrscher. Er hat hier einen Ort gefunden oder erspürt, der als spiritueller Anker dienen könnte. Ein Zentrum, das frei fliegende Gedanken erdet und ans Diesseits bindet, und umgekehrt ein freies und neues Denken bewirkt. Es ist ein besonderer genius loci, ein Ortsgeist, der Polling auszeichnet und von alters her Menschen angezogen hat. Schon vor 6000 Jahren, wie Funde aus der Jungsteinzeit belegen. Später kamen Kelto-Romanen, Römer, Alemannen, Bajuwaren. Dazu kamen auch wirtschaftliche Gründe, der Abbau des Pollinger Kalktuffsteins wurde relevant. 1830, nach der Auflösung des Klosters im Zuge der Säkularisation, wurde Polling zum Künstlerdorf. Zunächst kamen Münchner Landschaftsmaler wie Bürkel und Schleich, die dann als „Pollinger Landschafter“ in die Kunstgeschichte eingingen. Auch Carl Spitzweg und der „Chiemsee Maler“ Josef Dopfner besuchten Polling.

Es folgten amerikanische Maler wie Frank Duveneck, dessen Bild „Alter Stadtbach, Polling; Bayern“ von 1878 im Cincinnati Art Museum hängt. Es kamen weitere amerikanische Maler und Kunststudenten, und Polling war nun das „Amerikaner-Dorf“. Die Mann-Kinder besuchten hier ihre Mutter in der Sommerfrische, Thomas Mann verewigte in seinem Roman „Königliche Hoheit“ die auf dem Schweighart-Hof lebende „Frau Baronin“, und in „Doktor Faustus“ taucht die Gutsbesitzersfamilie Schweighart als Familie „Schweigestill“ auf, aus Polling wird „Pfeiffering“. Und so hätte die Kunstgeschichte Pollings ein profanes, aber würdiges Ende finden können, indem sie sich in Weltliteratur auflöst und als Teil einer größeren Ideen- und Kulturgeschichte weiterlebt. 

Aber so kam es nicht. Was die Ungarn im 10. Jahrhundert und die Schweden siebenhundert Jahre später nicht schafften, das gelang auch nicht der Säkularisation im 19. Jahrhundert: den Geist dieses Ortes zu vernichten. Dominikanerinnen setzten die heruntergekommenen Klostergebäude des ursprünglichen Augustiner-Chorherrenstiftes wieder instand, um dort ein „Mädchen-Erziehungsinstitut“ einzurichten. Über Polling hinaus berühmt wurde aber ein anderer Teil des Klosters, der einen neuen kreativen Geist verkörperte: der Bibliothekssaal, der in den 1970er Jahren durch regelmäßige klassische Konzerte bekannt wurde. 

1984 zog der in Planegg geborene Maler Bernd Zimmer nach Polling, nachdem er in der Berliner Galerie am Moritzplatz mit den Malerkollegen Rainer Fetting, Helmut Middendorf und Salomé als die „Jungen Wilden“ bekannt geworden war. Nach mehreren Fernreisen und einem Stipendien-Aufenthalt in Rom zog es ihn nach Polling, wo er bis heute sein künstlerisches und privates Zuhause hat. In einem großformatigen Linolschnitt hat er einmal die Geschichte Pollings dargestellt, und man spürt auch in diesem ausdrucksstarken Bilderbogen: diese Geschichte ist mehr als eine Aneinanderreihung historischer Ereignisse. War es Willkür, dass der kunstsinnige König Ludwig II. ausgerechnet in Polling halten ließ, wenn er von Linderhof nach Neuschwanstein fuhr? Ist es Zufall, dass sich Menschen von bestimmten Orten angezogen fühlen?