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Der Geist stirbt nie

Der Geist stirbt nie
Pollings schüchterne Größe

Helmut Mauró

Auf den berühmten Pollinger Tafeln aus dem 15. Jahrhundert kann man sehen, wie der Bayernherzog Tassilo III. auf der Jagd mit seinem Gefolge durch die umliegenden Wälder streift und scheinbar zufällig, einer Hirschkuh folgend, jenes hölzerne Kruzifix findet, das die Gründung des Klosters Polling zur Folge hat. Und wie immer geht es bei solchen Gründungslegenden nicht darum, wie exakt sie unserer Realitätswahrnehmung entsprechen, sondern war das Kernbild der Erzählung ist. In diesem Fall geht es darum, dass der junge Tassilo nicht nur ein mutiger Krieger und geschickter Jäger sein soll, sondern dass er auch Fähigkeiten haben muss, die über die praktischen Talente hinausgehen, die ihn als Mensch und erst recht als Herrscher über andere Menschen qualifizieren. Es soll ihm ein existenzielles sinnstiftendes Bedürfnis sein, nach einem Bewusstseinszentrum zu suchen, einem spirituellen Anker. Die frei fliegenden Gedanken müssen dabei nicht eingeschränkt oder in alte Bahnen gelenkt, aber sie müssen geerdet werden, an einen festen Ort gebunden sein, um beständig zu wirken. Dieser Ort kann kein willkürlicher Platz sein, seine Begründung liegt in einer gleichsam naturreligiösen Vorgeschichte. Uns zivilisierten Bewusstseinsmenschen ist sie verloren gegangen, aber in der reinen Natur ist sie noch lebendig. 

Und so folgt Tassilo instinktgeleitet einer Hirschkuh, die ihn zu einem vergrabenen Kreuz führt. Eine einfache Geschichte, die ebenso unglaubwürdig ist, wie sie andererseits darauf hinweist, dass es so etwas wie einen Genius Loci gibt, den Geist des Ortes, der nicht wirklich fassbar, sondern bestenfalls erspürbar ist. Polling und seine Umgebung hat mehrere solcher inspirierten Orte, die von alters her Menschen angezogen haben, hier zu siedeln. Funde aus der Jungsteinzeit belegen, dass sich hier schon 4000 vor Christus Menschen niederließen, später kamen Kelto-Romanen, römische Eroberer, Alemannen, Bajuwaren. Spätestens seit dem Aufenthalt der Römer war auch der Abbau des Pollinger Kalktuffsteins von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Die praktischen Gründe für eine Ansiedlung im Raum Polling waren wohl auch die Vorkommen an Tuffstein; sie waren bis ins zwanzigste Jahrhundert von Bedeutung. Aber so wichtig sie aus wirtschaftlicher Sicht auch waren, die besondere Anziehungskraft des Ortes und seine spirituelle Ausstrahlung können sie nicht erklären. 1830, 27 Jahre nach der Auflösung des Klosters im Zuge der Säkularisation wurde Polling zum Künstlerdorf. Das heißt, der Genius Loci wirkte weiter. Zunächst kamen Münchner Landschaftsmaler wie Seidel, Zimmermann, Bürkel, Heinlein, Schleich, Morgenstern, Habenschaden und vor allem Christian Heinrich Hanson, die als „Pollinger Landschafter“ in die Kunstgeschichte eingingen. Auch Carl Spitzweg war hier, von weiter weg kamen Friedrich Voltz, Eduard Grützner, der „Chiemseer Maler“ Josef Wopfner, Franz von Defregger und Heinrich von Zügel. Später kamen auch amerikanische Maler wie Frank Duveneck, der eine Reihe bedeutender Landschaftsbilder schuf, unter anderem 1878 eine Dorfansicht, die heute im Cincinnati Art Museum unter dem Titel „Alter Stadtbach, Polling; Bayern“ zu besichtigen ist. Duveneck folgten eine Reihe amerikanische Maler und Kunststudenten, und Polling hieß auf einmal: das „Amerikaner-Dorf“. Schließlich zogen die Maler weitere Künstler und Intellektuelle an. So kamen 1899 kamen Viktor Mann, der jüngere Bruder von Thomas und Heinrich Mann, mit der Mutter Julia nach Polling und verbrachten in den folgenden Jahren die Sommerfrische auf dem Schweighart-Hof. Später stießen auch Heinrich und Thomas dazu. Heinrich beendete hier seinen Roman „Die Jagd nach Liebe“, Thomas brachte einen ersten Entwurf von „Königliche Hoheit“ zu Papier und verewigte darin die auf dem Schweighart-Hof lebende „Frau Baronin“; in seinem „Doktor Faustus“ taucht dann auch die Gutsbesitzersfamilie Schweighart auf, dort heißt sie „Schweigestill“ und aus Polling wird „Pfeiffering“. 

Und so hätte die Kunstgeschichte Polling ein profanes, aber würdiges Ende finden können, indem sie sich in Weltliteratur auflöst und als Teil einer größeren Ideen- und Kulturgeschichte weiterlebt. Aber so kam es nicht. Was die einfallenden Ungarn im 10. Jahrhundert und die plündernden und die Pest bringende Schweden siebenhundert Jahre später nicht schafften, das gelang auch nicht der Säkularisation im 19. Jahrhundert und auch nicht den beiden Weltkriegen: den Geist dieses Ortes zu vernichten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatten Dominikanerinnen die heruntergekommenen Klostergebäude des ursprünglichen Augustiner- Chorherrenstiftes wieder instand gesetzt. 1892 hatte das Kloster St. Ursula aus Donauwörth den Komplex vom Gutsbesitzer Max Schweighart gekauft, um dort ein „Mädchen-Erziehungsinstitut“ einzurichten. Über Polling hinaus berühmt wurde aber ein anderer Teil des Klosters, der einen neuen kreativen Geist verkörperte: der Bibliothekssaal, der in den 1970er Jahren durch regelmäßige klassische Konzerte bekannt wurde, die, vom Bayerischen Fernsehen übertragen, eine große Fangemeinde fanden. 

Seit den 1980er Jahren wurde es etwas ruhiger um das Kunstleben in Polling, aber ganz ausgestorben ist es nie. 1984 zog der in Planegg geborene Maler Bernd Zimmer nach Polling, nachdem er in der Berliner Galerie am Moritzplatz mit den Malerkollegen Rainer Fetting, Helmut Middendorf und Salomé als die „Jungen Wilden“ bekannt geworden war. Nach mehreren Fernreisen und einem Stipendien-Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom zog es ihn nach Polling, wo er, neben weiteren Schaffensorten, bis heute sein künstlerisches und privates Zuhause hat. In einem überdimensionalen Linolschnitt hat er einmal die Geschichte Pollings dargestellt, und man spürt auch in diesem ausdrucksstarken Bilderbogen: diese Geschichte ist mehr als eine Aneinanderreihung historischer Ereignisse. Die sind nur Konkretisierungen eines charakteristischen Genius Loci, der nicht nur in den Klostergebäuden wohnt, sondern auch die Umgebung beseelt. War es Willkür, dass der kunstsinnige König Ludwig II. in Polling halten ließ, wenn er von Linderhof nach Neuschwanstein fuhr? Ist es Zufall, dass sich Menschen von bestimmten Orten in und um Polling herum besonders angezogen fühlen und das unerklärliche Bedürfnis haben, hier einen Gedenkstein zu setzen oder dort einen Weg anzulegen, den man unwillkürlich wie eine Meditationsübung begeht? Es scheint, dass sich jede Epoche ihre eigene Form sucht, um dem Genius Loci über den herrschenden Zeitgeist und über Naturkatastrophen hinweg eine angemessene und wirkungsmächtige Ausprägung zu geben. In einem Steinblock, einem Höhenweg oder einer Halle an der Biegung des Flusses.