Dr. Björn Vedder
Unsere Geschichte ist eine Geschichte der Bilder, die wir uns von uns selbst und unserer Welt machen. Das lässt sich bis in die Höhlenmalerei der Steinzeit zurückverfolgen, wie sie etwa in der berühmten Höhle von Lascaux zu sehen ist. Die Bilder von Stieren, Hirschen, Großkatzen und Menschen, die unsere Vorfahren zwanzig- oder dreißigtausend Jahre vor Christi Geburt in den Stein geritzt und darauf gemalt haben, zeigen nicht nur, was es in ihrer Welt gab, sondern auch, wie sie sich selbst im Verhältnis zu ihr gesehen haben. Sie verhandeln das Welt- und das Selbstbild dieser Menschen und führen so die beiden grundlegenden Funktionen von Bildern vor: Sie bilden ab, was ist und sie sagen etwas darüber aus, wie es ist. Bilder erzeugen Sinn. (1)
Wie dieser Überschuss erzeugt wird (durch Stile, Techniken, Materialien und Kontexte), wie sich diese Erzeugung im Laufe der Zeit verändert (ob er eher in einer Art religiösen Andacht, einer ästhetischen Kontemplation oder einer besonderen Erfahrung des Dargestellten besteht), ist genauso Gegenstand akademischer Debatten wie die Frage, welchen Anteil an diesem Überschuss das Bild und welchen der Betrachter hat. Dabei unterscheiden sich diese Debatten nicht nur in den einzelnen Positionen und im Laufe der Zeit, sondern auch im Hinblick auf die verschiedenen Kulturen, vor deren Hintergrund sie geführt werden. (2)
Umso bemerkenswerter ist die Konstanz des Phänomens. Der Mensch ist offenbar ein Bilder produzierendes Lebewesen. Er hat das Bedürfnis, Bilder von sich und seiner Welt zu erzeugen, um diese Welt nicht nur abzubilden, sondern ihr und seinem Leben darin einen Sinn zu geben. Die Produktion von Bildern folgt aus einem Bedürfnis der Symbolisierung und zeigt, dass wir Menschen zugleich Sinn- und Sinneswesen sind. Wir erzeugen sinnlich wahrnehmbare Artefakte, um uns darin zu spiegeln. (3)
Wie notwendig uns diese Selbstbespiegelung im Bild ist, zeigen schon die Versuche, uns ein Bild von unserem eigenen Körper zu verschaffen, dessen wir nie ganz ansichtig werden können. Wir bekommen allenfalls eine Ahnung von ihm als einem Ganzen, und auch das nur in extremen Situation, etwa dann, wenn wir einen elektrischen Schlag verspüren, der unseren Körper entlang läuft, oder wenn wir beim Baden Kopf über in kaltes Wasser springen und es beim Eintauchen Stück für Stück mit unserem Körper durchschneiden. Doch bleibt eben auch diese Erfahrung bruchstückhaft. Erst in Bildnissen können wir unseren Körper als Ganzen sehen. (4) Diese Angewiesenheit auf das Bild verstärkt sich, wenn wir nicht nur unseren Körper wahrnehmen möchten, sondern auch unser Verhältnis zur Welt, insbesondere dann, wenn wir in diesem Verhältnis Sinn und Bedeutung suchen. Bildnisse reflektieren diese Sinnsuche. Sie sind der Resonanzboden unserer semantischen Sehnsüchte.
Das zeigt auch die Säulenhalle STOA169 von Bernd Zimmer. Sie versammelt über 100 Säulen von Künstlern aus aller Welt unter einem Dach. Sie zeigt – um nur ein paar Beispiele zu nennen – eine Säule von Maheatete Huhina aus Polynesien, Lawrence Weiner aus den USA, Fiona Hall aus Tasmanien, Leiko Ikemura aus Japan oder Gregor Hildebrandt aus Deutschland. Es sind Arbeiten aus der Bildhauerei, der Minimal Art, der Fotografie, der Objektkunst oder Malerei. Sie entstammen den verschiedensten kulturellen Kontexten, künstlerischen Traditionen und Stilen (deren Unterschiede sich nicht zuletzt deshalb besonders gut beobachten lassen, weil alle dasselbe Artefakt produzieren: die Säule). Sie alle stellen jedoch die Symbolisierung als grundlegende künstlerische Leistung und existenzielles menschliches Bedürfnis aus – und darin liegt ein utopisches Potenzial, ein Prinzip Hoffnung.
Denn, wenn es diesen schönen und großen Überschuss, der sich in den Symbolisierungen zeigt, nicht gäbe, könnten wir einpacken. Mit „wir“ meine ich all diejenigen, die noch glauben oder hoffen, dass es in unserem Zusammenleben um mehr als um rationale oder effektive Befriedigung materieller Bedürfnisse gehen kann, dass ethische oder moralische Fragen in der Ausrichtung unseres Handelns eine Rolle spielen können und dass soziales oder kooperatives Verhalten mehr ist als psychologischer Egoismus.
Dieses utopische Potenzial der Kunst anzusprechen ist heute vielleicht wichtiger denn je, weil die Geldwirtschaft alles Handeln einem ökonomischen Kalkül unterwirft und dabei alle anderen Symbolsysteme zersetzt, die ein soziales Handeln motivieren könnten, wie etwa eine Religion oder eine Moral. Wir geben unsere eigenen Sachen an einen anderen weiter oder leisten Arbeiten für ihn – nicht, weil wir uns dazu sozial verpflichtet fühlten oder in der frommen Gesinnung, dadurch Gottes Willen zu erfüllen, sondern weil wir dafür bezahlt werden.
Das hat natürlich viele Vor-, aber eben auch Nachteile. Und einer der größten Nachteile ist vielleicht, dass Sinnfragen zunehmend verdrängt werden, z.B. die, wozu diese Lebensweise eigentlich gut ist. Im Zusammenhang mit der bildenden Kunst tauchen diese Fragen jedoch wieder auf – und das in besonders starker sinnlicher Präsenz. Wir betrachten Kunstwerke nicht nur, um in der Auseinandersetzung mit ihnen Sinnfragen zu verhandeln, sondern sie selbst sprechen diese in uns und damit uns selbst auch an. Was wir sehen, sieht uns an – und zwar nicht nur in einem rein geistigen Sinne, wie uns etwa ein Text anspricht und uns Fragen stellt oder Fragen, die wie haben, beantwortet, sondern auch in einem leiblichen. (5) Die Wechselbeziehung berührt nicht nur Sinn, sondern auch und zu allererst die Sinne. So führen Werke der bildenden Kunst unseren Doppelcharakter als Sinn- und Sinneswesen besonders deutlich vor Augen.
Das lässt sich im Grunde an jedem Objekt der bildenden Kunst erfahren. Die einzelne Erfahrung leidet jedoch unter einem Übergewicht des Konkreten oder Abstrakten. D.h., dass wir in ihr entweder schon auf eine bestimmte Resonanz der Sinne und des Sinnes verwiesen sind, eine konkrete Symbolisierung, die wir weiterverfolgen. Dabei tritt das Phänomen des Resonierens in den Hintergrund. Oder sie rücken die Darstellung gegenüber dem Dargestellten, die Abbildung gegenüber dem Abgebildeten in den Vordergrund. Dann bleibt unsere Resonanz abstrakt. Mit der Masse der Objekte, wie sie Zimmers STOA169 präsentiert, kommen diese widerstreitenden Bewegungen jedoch zur Balance, denn wir werden beim Gang durch die Säulenhalle zunächst einmal mit einer großen Anzahl von Symbolisierungen konfrontiert, die wir einzeln nachverfolgen oder mit denen wir flanierend mitschwingen können. Die Säulen feiern in ihrer Vielzahl den symbolischen Überschuss der bildenden Kunst und seinen sinnlichen Reiz.
Damit ist zugleich eine soziale Erfahrung verbunden. Denn, indem wir durch die Halle wandeln, deren Säulen uns sinnlich ansprechen und etwas bedeuten, erkennen wir uns als eine oder einen unter anderem, der, die oder das Bedeutung hat. Und diese ästhetische Erfahrung lässt sich leicht ins Soziale übertragen. Wir können dann merken, dass nicht nur wir selbst jemand sind, für den oder die es Bedeutung gibt, sondern dass auch die anderen Bedeutung haben, d.h. dass auch sie Ziele verfolgen, Wünsche und Bedürfnisse haben und ihrem Leben Sinn geben wollen, und diese Bedeutung kann für uns nicht irrelevant sein. Wir erfahren uns als einen unter anderen. Diese Perspektive auf uns selbst und die anderen macht eine moralische oder soziale Einstellung allererst möglich. (6)
Fassen wir also zusammen: Bernd Zimmers STOA169 ist ein große und offene Feier der künstlerischen Symbolisierung unserer semantischen Sehnsüchte. Diese Sehnsüchte zeigen, dass wir Sinn und Sinneswesen sind. Wir sind bestrebt, unserem Leben einen Sinn zu geben, wir suchen ihn in Dingen, in denen wir uns spiegeln. Sie sind der Resonanzboden dieser Sehnsüchte. Resonanzboden heißt, dass diese Objekte uns ansprechen oder anblicken und wir zurückblicken. Die Sinnsuche ereignet sich in einem sinnlichen Wechselspiel, bei dem wir mit anderem mitschwingen. Dieses ästhetische Mitschwingen mit anderen lässt sich leicht auf ein soziales Mitschwingen mit anderen übertragen. Wir erkennen uns als eine/n unter anderen. Diese Perspektive auf uns und auf andere ist die Grundlage für die Übernahme moralischer oder sozialer Einstellungen. Zwischen den Säulen zu wandeln prägt unser Verhältnis zu uns und zu anderen.
Dass wir uns zu uns selbst, zu anderem und zu anderen verhalten können, ist eine der hervorragendsten Qualitäten der menschlichen Existenz und unterscheidet uns von den Tieren. Dieses Selbst- und Fremdverhältnis kulminiert in der Sehnsucht, unser Leben nicht in seinen einzelnen Vollzügen auseinanderfallen zu lassen, sondern als ein Ganzes zu begreifen und ihm einen Sinn zu geben. Den kann es nur als ein Ganzes haben. So wie die Resonanz mit anderen unsere Perspektive auf uns selbst relativiert, relativiert der Blick auf unser Leben als ein Ganzes den Blick auf seine einzelnen Teilaspekte. Wir erkennen uns als einen unter anderen und die Teilsysteme, wie z. B. die Ökonomie, als eines unter anderen. Und so, wie uns der relativierte Blick auf uns nötigt, das, was für uns Bedeutung hat (unsere Wünsche, Ziele und Sehnsüchte) zu dem, was für die anderen Bedeutung hat, in Beziehung zu setzen, nötigt uns der relativierende Blick auf unser Leben seine Teile zueinander in Beziehung zu setzen – und zwar im Hinblick darauf, inwieweit sie zum Gelingen des Ganzen beitragen. Wenn wir durch die Säulenhalle spazieren, gehen wir also zu uns selbst.
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(1) Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/Main 2006. Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn Erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2008.
(2) Hans Robert Jauß, „Über religiöse und ästhetische Erfahrung – zur Debatte um Hans Belting und George Steiner“, in: Ders., Wege des Verstehens, München 1994, 346-377, hier: S. 356.
(3) Vgl. dazu Hartmut Boehme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 366.
(4) Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt am Main 2014, S. 827.
(5) George-Didi Huberman, Vor einem Bild, übers. v. Reinold Werner, München 2000. Ders., Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, übers. v. Markus Sedlaczek, München 1999.
(6) George-Didi Huberman, Vor einem Bild, übers. v. Reinold Werner, München 2000. Ders., Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, übers. v. Markus Sedlaczek, München 1999.