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Der offene Raum

Walter Grasskamp

Die Akademie, die Platon im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gründete, ist weder nach einem Gebäude benannt worden noch nach einem Lehrprogramm. Die Namensstifterin vieler Bildungsinstitute der Neuzeit, die prunkvolle Gemäuer bezogen, war ein Baumgarten, oder, wie es in der Rhetorik klassischer Bildung bis heute heißt, ein Hain. Der lag außerhalb der Stadtmauer Athens und war zuvor einem Heros namens Akademos geweiht gewesen, dessen Name sich vom Grundstück auf die Philosophenrunde
übertrug. 
Maßgebend für die philosophische Rhetorik des Abendlandes wie auch der arabischen Mittelmeerkulturen (wo das antike Wissen die rabiate Zensur des frühen christlichen Mittelalters überlebte, fanden die platonischen Gespräche im Schatten von Bäumen statt, als habe erst die Stadtferne jene klaren Gedanken ermöglicht, die über die Üblichkeiten des urbanen Lebens hinauszuführen vermochten.
Vielleicht spielte für die Ortsentscheidung auch die Vorsicht gegenüber der Stadtbevölkerung eine Rolle, deren Misstrauen und Ablehnung Platons Lehrer Sokrates ein Jahrzehnt zuvor das Leben gekostet hatte. Bevor Platon auf dem Gelände ein Gebäude errichtete, war der Probelauf des freien Denkens die Angelegenheit eines baumbestandenen Vorstadtgrundstückes.
Dagegen soll die Schule von Platons Nachfolger Aristoteles, die Peripatetiker, ihren Namen nach der säulengestützten „Wandelhalle“ (Peripatos) erhalten haben, in der sie sich trafen; einer anderen Überlieferung zufolge geht er auf ihr „Umherwandeln“ beim Gespräch zurück. Die Peripatetiker waren nicht die einzigen, die nach einem Gebäudetyp benannt wurden, denn auch die um Zenon gruppierten Stoiker verdankten ihren Markennamen dem Ort ihrer Gespräche, der Stoa. Dabei handelt es sich um einen Säulengang, wie er in der griechischen Antike den öffentlichen Raum so gestaltete, dass man sich außerhalb der Sonnenstrahlen frei bewegen und begegnen konnte; in diesem Fall lag er direkt am Marktplatz Athens mitten in der Stadt. Die Treffpunkte der Peripatetiker und Stoiker artikulierten sich architektonisch maßgeblich über die Säulen – diese trugen die Decke als Sonnen­ und Regenschutz und sorgten zugleich für die Offenheit der Hallen und Gänge und damit für ein günstiges Klima der Begegnung. Wie die Säulen den Raum öffneten, so öffneten die hinter ihnen geführten Gespräche sich in die Freiheit zunehmend voraussetzungsloser Erörterungen. Wenn man diese Säulenhallen im modernen Sinn für einen öffentlichen Raum hält, muss man freilich in Rechnung stellen, dass ihre kommunikative Nutzung auf freie Männer beschränkt war und Frauen sowie Sklaven vorenthalten blieb. Nur der große Athener Garten Epikurs soll darin eine Ausnahme gebildet haben.

In den späteren Rückgriffen des Klassizismus wurde die Säule nicht nur als Lastenträger, sondern auch als Bedeutungsträger zitiert, womit eher selten die gleichzeitige Offenheit von Gebäude und Gedanke gemeint war, sondern andere Eigenheiten der Antike. Säulen trugen schließlich auch den Portikus mancher Villa des 18. Jahrhunderts, deren Bewohner ihren Reichtum dem Handel mit Sklaven verdankten, wie es sie auch in der Antike gegeben hatte. Zumal das „Greek Revival“ der jungen USA monumentalisierte die Säule als Element eines weißen Klassizismus, der auch eine politische Farbenlehre war. Im Klassizismus lebte nicht stets das philosophische Erbe der Antike weiter, sondern oft eines der Gewaltverherrlichung und Ungleichheit. Kaum ein Künstler der Moderne hat die Ambivalenz dieser Rückgriffe so zum Thema seines Werkes gemacht wie Ian Hamilton Finlay (1925­2006). Zwischen dem Freiheitsversprechen der Französischen Revolution von 1789 und dem Terror der Nationalsozialisten nach 1933 hat er die Traditionen einer Architektursprache aufgegriffen, in der die Säule eine in verschiedenen Hinsichten tragende Rolle spielte (wobei ihn besonders die Phase des terreur der Französischen Revolution faszinierte).

Finlay praktizierte seine in Bildhauerei, Grafik und Literatur umgemünzte Reflexion nicht in der Stadt, sondern auf dem Land. Sein abgelegenes Grundstück in Schottland war ein Territorium der Souveränität, das sich zeitweilig als Little Sparta gegen den Rest der Welt wappnete.

An der Grenze seines Grundstücks befand sich zeitweilig eine freistehende Säule, deren Sockel die Aufschrift trug The World Has Been Empty Since The Romans, womit Finlay die Bedeutung der Tradition relativierte, in der er selber stand, die des Klassizismus. Als Symbol, Textträger und Skulptur stand die Säule für eine Einheit von philosophischer Reflexion, literarischer Schrift und künstlerischer Form. Sie war typisch für das Werk Finlays, der einen Gedanken nicht nur als Text und Buch zu medialisieren suchte, sondern vor allem als Ortsbesetzung. Mit Finlay kann man die Säule gegen die musealen Versteinerungen des Klassizismus auch als Emblem einer lebendigen Tradition betrachten, die sich weniger auf die architektonische Raumordnung von Rhythmus, Offenheit und Eleganz bezieht, sondern auf die Freiheit des Gedankens. Seine Säule artikulierte zugleich eine Ortsgebundenheit des Denkens, wie sie sich nicht nur in den namensstiftenden Gebäuden der antiken Philosophenschulen niederschlug, sondern auch in Friedrich Nietzsches Misstrauen gegenüber jedem Gedanken „der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung“ (womit dieser freilich nicht das Umherwandeln der Peripatetiker meinte, sondern seine eigenen Wanderungen in der Bergwelt des Engadin).
 Anders als die griechischen Philosophen bevorzugte auch Finlay die offene Landschaft, die er mit seiner Sammlung philosophischer Anmerkungen und klassizistischer Erinnerungen besetzte – die Einheit von Terrain und Gedanke wurde ihm zum Inbegriff territorialer Souveränität und unabhängigen Denkens zugleich.

In Bernd Zimmers Projekt STOA169 ist die Säule natürlich weder als architektonischer Lastenträger gemeint noch als Zeichen der Macht. Vielmehr ist sie ein Bedeutungsträger, allerdings nicht im Sinne einer individuellen Codierung. Vielmehr geht es um ein Projekt, das Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt zusammenführen soll, um durch die Versammlung ihrer statischen Stellvertreter einen gemeinsamen Gedanken zu artikulieren, den des Friedens als Ergebnis einer Begegnung von Menschen in Freiheit und Gleichheit.
 Es geht daher weniger um einen klassizistischen Bezug auf die Säulenhalle als der antiken Bühnengestalt des freien Diskurses, sondern um ein politisches Kunstwerk, das schon in seiner Form die Synthese aus vielen Entwürfen als Gemeinsamkeit hervorbringen soll. Kann die zeitgenössische Kunst sich noch zu etwas anderem zusammenfinden als zu den flüchtigen Nachbarschaften der Biennalen oder zu den Kojenlandschaften der Kunstmessen, zu den Börsensynthesen des Marktes? Bei Bernd Zimmers Projekt STOA169 geht es um eine Utopie der Kunst, die einen Ort besitzt, wo sie Form annehmen kann.