Dominik von König
Hingelagert am Rande des weiträumigen Mooses, nach Süden begrenzt von einer Hügelkette, im Hintergrund das Hochgebirge, liegt Polling. Zunächst ist nur der mächtige Turm der Stiftskirche zu sehen, ein Werk des Renaissancekünstlers Hans Krumpper, dann das Geviert der Klosteranlage. Polling ist ein Klosterdorf, seit mehr als 1000 Jahren. Das Kloster hat das Erscheinungsbild des Dorfes ebenso geprägt, wie die rund 800-jährige Anwesenheit der Augustiner-Chorherren auch seine Bewohner prägte. Vor allem im 18. Jahrhundert findet sich in Polling eine Weltläufigkeit, die außergewöhnlich war. Der wissenschaftliche Austausch des Klosters mit anderen Ländern machte Polling zu einer Bildungsstätte von europäischem Rang. Mit den Klöstern kam die Kultur auf das Land, so auch in Polling: die Agri-Kultur, das Handwerk, die Künste, zuletzt die Wissenschaften. Dem ältesten Kunstwerk, dem Heiligen Kreuz, ist die Kirche geweiht. Der Kreuzstamm aus Fichtenholz wurde um das Jahr 1000 geschlagen, die spätromanische Figur des Gekreuzigten, auf Pferdehaut gemalt, lässt byzantinischen Einfluss erkennen. Dieses Kreuz steht am Beginn aller Werke, die das Kloster im Laufe der Jahrhunderte durch Baumeister, Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker zur höheren Ehre Gottes errichten und anfertigen ließ. Einiges, vor allem die Stiftskirche und die Klostergebäude mit dem spätbarocken Bibliothekssaal, blieb auch nach der Auflösung der bayerischen Klöster im Jahre 1803 erhalten. Anderes findet sich in den großen Münchner Museen wieder: vor allem die Bibliothek selbst, damals eine der größten in Deutschland, deren beste Stücke in die heutige bayerische Staatsbibliothek überführt wurden. Mit dem Jahre 1803, der Säkularisation, säkularisierten sich, notgedrungen, auch die Künste, denn die Kirche als Auftraggeber für die Musik und die bildende Kunst entfiel. Das galt für Ausstattung der Kirchen mit biblischen Geschichten oder frommen Legenden und das Kunsthandwerk. Es bildete sich ein Kunstmarkt, der nach anderen Sujets verlangte.
Vor allem die Landschaftsmalerei fand guten Absatz. Die Künstler gingen aufs Land, um vor der Natur zu malen. Polling wurde – mit einigen anderen Orten – von den Malern geschätzt. Wie wir vor allem aus dem Fremdenbuch der Alten Klosterwirtschaft wissen, haben zwischen 1830 und 1900 weit über 400 Künstler Polling besucht – viele von Ihnen wiederholt und für längere Zeit. Überraschend ist dabei der hohe Anteil ausländischer Maler: Engländer, Schweizer, vor allem aber 90 Amerikaner. Frank Duveneck (1848-1919), ein Mann mit Begabung und Charisma, scharte eine Gruppe von Landsleuten um sich, die „Duveneck-Boys“, die während der Ferienzeiten der Münchner Akademie gemeinsam in Polling malten. Sie wohnten bei den Bauern und nutzten die leeren Klosterräume als Atelier. „Amerikanerdorf“ nannte man Polling in den 1870er Jahren. Viele ihrer Gemälde hängen heute in den großen Museen der USA. Zeugnisse ihrer Kunst – so das Polling Watergirl von Joseph DeCamp und Duvenecks erstes in Polling gemaltes Bild – bezeugen aber auch im Museum Polling mit vielen weiteren Ansichten des Dorfes und seiner näheren Umgebung durch namhafte Maler der „Münchner Schule“ das reiche künstlerische Leben, das hier für ein halbes Jahrhundert herrschte.
Um 1900 endete das Kapitel „Malerdorf Polling“. Aber der künstlerische genius loci hat Polling nicht verlassen: es blieb und bleibt weiterhin ein Ort künstlerischer Tätigkeit und der Kunstvermittlung. Julia Mann wählte Polling für lange Jahre als Aufenthaltsort – durch ihren Sohn Thomas ist Polling im Doktor Faustus in die Weltliteratur eingegangen. Der mit der Mutter in Polling wohnende Sohn Victor hat dem Ort in seinem Werk Wir waren Fünf ein anrührendes Denkmal gesetzt. Auch die bildenden Künste haben heute wieder eine Heimstatt in Polling gefunden, mitunter von internationalem Rang. So wohnt schon seit langem der Maler Bernd Zimmer im früheren Pferdestall des Klosters. Er hat den Freund und Bildhauer Nikolaus Gerhardt angeregt, ein Denkmal für den heimischen Tuffstein zu setzen, aus dem das Kloster, die Kirche und alle älteren Häuser der Gemeinde erbaut sind. Die beiden behauenen Tuffblöcke krönen, beiläufig und doch markant, den höchsten Punkt des Dorfes, den Ammerberg. Im „Regenbogenstadl“, ursprünglich ein landwirtschaftlicher Zweckbau, werden Werke von La Monte Young und Marian Zazeela präsentiert.
Seit 1962 entwickelt das amerikanische Künstlerpaar das Dream House als großes fortlaufendes Projekt der Präsentation von Klang und Licht. Ständige Einrichtungen, wie dieses Dream House, sind nur in New York und, seit 2001, in Polling zu sehen. Und der „Fischerbau“ – ursprünglich ein Märzenbierkeller, ein Werk des großen barocken Baumeisters Johann Michael Fischer – ist nicht nur Ausstellungsstück seiner selbst, sondern wird durch wechselnde Kulturereignisse mit Leben erfüllt, im Jahre 2016 z.B. durch eine Installation von Dan Flavin. Die Fülle kultureller Zeugnisse und Aktivitäten unterscheidet Polling von vergleichbaren Gemeinden der Umgebung. Polling hat sich bis heute die Kraft erhalten, im Lauf der Zeiten, inspiriert von weitsichtigen Persönlichkeiten, immer wieder Außergewöhnliches hervorzubringen.